Wie Estland zum Digital Government-Vorreiter in Europa wurde
Angela Merkel (CDU) war im letzten Jahr hier. Hannelore Kraft (SPD) ebenfalls. Und auch das Wirtschaftsministerium im rot-rot-grün regierten Thüringen schickte eine Delegation ins Baltikum. Sie alle wollten in Estland etwas über E‑Government lernen. Denn „E‑Estonia“ gilt in Europa als einer der Vorreiter der digitalen Verwaltung.
Von der Wahl bis zur Polizeiarbeit: Alles geht elektronisch
E‑Voting: Seit 2005 können die Esten online wählen. Beim ersten Anlauf wurden nur knapp zwei Prozent der Stimmen über das Internet abgegeben. Bei der letzten Parlamentswahl im März 2015 haben mehr als 30 Prozent aller Wähler ihr Kreuz elektronisch gesetzt – ein neuer Rekord.
Elektronischer Ausweis: 94% der Bürger verwenden mittlerweile die 2002 eingeführte elektronische ID-Karte – zunehmend auch mobil über das Smartphone. Weit mehr als zweihundert staatliche Dienstleistungen lassen sich heute mit diesem elektronischen Personalausweis nutzen. Und auch digitale Signaturen können damit geleistet werden, die in Estland rechtlich der normalen Unterschrift gleichgestellt sind.
Unternehmensgründung im Internet: Jeder Unternehmer kann am eigenen Computer ohne aufwendigen Papierkram eine Firma gründen. Dies dauert durchschnittlich nur noch eine halbe Stunde – die Rekordzeit liegt bei 18 Minuten und drei Sekunden.
E‑Finanzamt: Bereits 2012 hatten 95 % der Esten die Steuererklärung auf elektronischen Wege abgegeben – weltweit ist das einzigartig. Ein Klick öffnet ein zentrales Internetportal der Steuerbehörde mit geschütztem Zugang. Dort lässt sich die Erklärung innerhalb weniger Minuten fertigstellen und signieren, denn sie steht am Jahresende bereits vorausgefüllt im Netz. Die nötigen Daten werden dazu vom Finanzamt automatisch bei Arbeitgeber, Banken und anderen Behörden abgerufen.
E‑Health: Die Gesundheitsdaten der gesamten Bevölkerung sind in einem Patientenportal vereint. Dort werden personenbezogen alle Daten wie etwa Arztbesuche, Röntgenbilder, Diagnosen und verschriebene Medikamente gespeichert – von der Geburt bis zum Tod. Ärzte und Krankenhäuser greifen mit Erlaubnis des Patienten online auf die Akten zu. Auch können sie digitale Rezepte ausstellen, die Apotheker abrufen können.
Online-Justiz: Ein Justizportal informiert über das estnische Gerichtswesen und bietet Einsicht in bereits erlassene Urteile. Prozessbeteiligte können über eine spezielle Datenbank online auf die Gerichtsunterlagen laufender Verfahren zugreifen.
E‑Polizei: Bei Fahrzeugkontrollen braucht die estnische Polizei nicht mehr länger nach Führerschein und Fahrzeugpapieren zu fragen. Die Beamten rufen im Streifenwagen mobil Vorstrafen-Register, Versicherungsdaten und alle nötigen Informationen zum Fahrzeughalter und Fahrer ab.
Mit der E‑Residency ist fast alles online regelbar
In dem rohstoffarmen EU-Mitgliedsland haben junge Politiker die Bedeutung der digitalen Transformation bereits sehr früh erkannt. Schon seit 1999 arbeitet das estnische Kabinett papierlos. Anfangs noch mit stationären Computern, mittlerweile mit Laptops und Tablets. Der Internetanschluss für alle Bürger gilt als soziales Recht. Viele Akten, etwa Grundbücher, gibt es inzwischen nicht mehr in Papierform. Amtliche Mitteilungen erscheinen seit Juli 2003 ausschließlich online.
Durch die „E‑Residency” – die digitale Staatsbürgerschaft – ist hier fast alles online regelbar. Jeder kann diese elektronische Identität für einen längeren Aufenthalt in Estland erwerben. Egal, ob EU-oder Nicht-EU‑Bürger. Sogar eine rechtsgültige Online-Heirat ohne Pfarrer und Standesamt gibt es in dem kleinen Land. Möglich macht das die Blockchain-Technologie, mit deren Hilfe die Heiratsurkunde manipulationssicher gespeichert werden kann.
Die Blockchain sorgt für Vertrauen
Die Blockchain („Blockkette“) steckt hinter vielen der E‑Government-Anwendungen in dem baltischen Staat. Denn sie löst das zentrale Problem von digitalen Gütern: Die unberechtigte Vervielfältigung. Bewährt hat sich diese Verschlüsselungsmethode bereits bei der Digitalwährung Bitcoin. Die Blockchain ist dort, vereinfacht dargestellt, ein öffentliches Verzeichnis jeder Transaktion, bei der Bitcoins zum Einsatz kamen.
Somit ist jeder „Münze“ eindeutig identifiziert und es lässt sich stets überprüfen, ob ein Käufer auch ihr rechtmäßiger Besitzer ist. Dies muss von den Beteiligten jedoch nicht jeweils selbst überprüft werden, sondern läuft automatisch bei jeder Transaktion im Hintergrund ab. Wofür also bisher Institutionen wie Banken notwendig waren, die die Rechtmäßigkeit der Zahlung bestätigten, wird nun das Vertrauen durch ein dezentrales Netzwerk gewährleistet.
„Blockchain hat das Potenzial, die Art und Weise, wie zukünftig Verträge zustande kommen, Steuern eingezogen werden, Pässe ausgegeben und Grundbücher geführt werden, grundlegend zu verändern“, beschreibt der oberste wissenschaftliche Berater der britischen Regierung, Sir Mark Walport, in einem kürzlich vorgelegten Gutachten die disruptiven Veränderungsmöglichkeiten dieser Technologie.
Denn sie stelle ein sehr viel sichereres und transparenteres System darstellt, um Daten zu verwalten, als heutige Verfahren. Deshalb tue die Regierung des Landes gut daran, die Blockchain-Technologie möglichst schnell in der Verwaltung und vielen anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes einzusetzen. Estland lässt grüßen.