Anders Sundt-Jensen muss bei VW nicht das Rad neu erfinden

VW ist der zweitgrößte Autohersteller der Welt. Abseits des Abgasskandals hat die Marke ihr Marketing stärker am Kunden ausgerichtet und Always-on-Strategien integriert.

Anders Sundt-Jensen muss bei VW nicht das Rad neu erfinden

Volkswagen ist der zweitgrößte Automobilhersteller der Welt. Seit dem Abgasskandal ging es für das Unternehmen in den letzten 18 Monaten darum, seine Dieselfahrzeuge für die Einhaltung der Abgasnormen fit zu machen. Doch abseits der Schlagzeilen ist VW dabei, sein Marketingkonzept zu verändern, um kundenorientierter zu werden und eine Always-on-Strategie zu etablieren. Dazu investiert das Unternehmen kräftig in Targeting und prädiktives Marketing.

Anders-Sundt Jensen ist Leiter der Abteilung für globales Marketing bei Volkswagen. Nach 20 Jahren bei Mercedes Benz, wo Jensen von 2008 bis 2013 als Leiter für globale Markenkommunikation tätig war, kam er 2014 zu VW.

Im Interview erklärt er wie die Marke ihre Marketingabteilung umbaut.

Jensen: Wir sind jetzt nach Prozessen organisiert. Kundenorientiertheit, Always-on-Kommunikation und Präsenz beim Verbraucher stehen bei uns im Mittelpunkt. Deshalb haben wir eine Abteilung für Kommunikation und Mediaplanung. Wir lenken all unsere Aktivitäten von Beginn an über unseren Media-Plan, noch bevor wir überhaupt mit unseren Kreativagenturen in Kontakt treten.

Die zweite Abteilung ist das Content-Management. Von hier gehen unsere Initiativen in Sachen Inhalte aus. Alle Verantwortlichen kommen an einem Tisch zusammen und stellen einen Jahresplan auf. Natürlich gibt es für alle Kommunikationsaktivitäten ein spezielles Team, das sich Gedanken darüber macht, welche Art von Content wir produzieren möchten.

Vor fünfzehn Jahren waren wir alle mit 10-Jahres-Kommunikationsplänen und 360-Grad-Kommunikation zufrieden. Heute sieht das völlig anders aus, weil wir sehr zielgerichtet arbeiten müssen. Wir können es uns nicht erlauben, das Ziel zu verfehlen. Das wiederum heißt, dass im Vorfeld sorgfältig geplant werden muss.

Meinen dritten Verantwortungsbereich bezeichnen wir als Volkswagen Live. Er bezieht sich auf alle Aktivitäten mit Partnern und Sponsoren, Automobilmessen, Veranstaltungen und auch das sogenannte Marken-Entertainment, das sich rund um das Customer Engagement- dreht und heute viel stärker von Inhalten für Social Storytelling bestimmt wird.

Die Struktur ist also sehr einfach gehalten. Alles ist mit allem verbunden. Doch damit unterscheidet sie sich sehr von der Struktur bei anderen Automobilherstellern.

CMO.com: Wie funktioniert das regionsübergreifend?

Jensen: Wir tragen international Verantwortung. Wir haben das letzte Wort, weil es vollkommen sinnlos wäre, wenn jeder seinen eigenen Content erstellen würde. Das gilt zumindest für die klassischen Kampagnen – also Produkteinführungen – und für viele andere Aufgaben, die mit unseren verschiedenen Angeboten auf dem Markt in Verbindung stehen.

CMO.com: Basieren diese Veränderungen in der Marketingabteilung also darauf, dass das Unternehmen seine Einstellung überdacht hat? Oder wurde das neue digitale Konzept vom Marketingbereich angeregt?

Jensen: Die Rollen von Marketing und Marketer verändern sich. Marketing war schon immer eine Schnittstelle, wo zwischen Markt und Herstellungsbereich vermittelt wird. Heute ist das Marketing allerdings noch viel mehr als das. Es weist einem Unternehmen die richtige Richtung.

Wenn wir mal ganz ehrlich sind, arbeiten wir schon seit Jahrzehnten mit datenbasierten Marketingtechniken. Der größte Unterschied heute ist, dass wir über eine gigantische Menge von Daten verfügen. Wir haben jetzt vollkommen neue Möglichkeiten, um Daten zu gewinnen, zu kombinieren, transparent zu machen und Zusammenhänge zu erkennen. Und das hat ganz eindeutig auch unsere Arbeitsweise verändert.

Für alle großen und etablierten Unternehmen ist das eine riesige Herausforderung. Es ist unmöglich, seine Mitarbeiter über Nacht komplett zu verändern. Jemand hat das mal ganz simpel ausgedrückt: „Du musst die Menschen verändern, und wenn du sie nicht verändern kannst, dann musst du sie eben austauschen.“ Man kann Menschen aber nicht alle auf Knopfdruck verändern oder einfach die Hälfte entlassen, weil sie den neuen Anforderungen nicht gerecht werden. So funktioniert das Leben nicht. Man muss ständig weiterdenken und den Änderungsprozess nachverfolgen. Marketing ist ein Antriebsfaktor dafür.

Das Unternehmen selbst muss verstehen, dass es dabei nicht nur um einen Prozess, Systeme und Digitalisierung geht. Nicht nur Vertrieb und Marketing sind davon betroffen. Es geht dabei um etwas, das sich enorm auf das gesamte Unternehmen auswirkt. Da hilft es nicht, nur die Kommunikationsweise oder gar die nachgelagerten Aktivitäten umzugestalten, wenn nicht gleichzeitig auch die vorgelagerten Prozesse neu strukturiert werden. Die Digitalisierung betrifft das ganze Unternehmen.

CMO.com: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Aufgaben des Marketings in der Automobilindustrie und speziell bei VW? Wie denken Sie über diese Herausforderungen?

Jensen: Die Automobilbranche ist etwas ganz Besonderes, denn hier entwickeln Unternehmen schon seit hundert Jahren Innovationen und technische Lösungen. Wir haben die Nachfrage angeregt und Angebote auf den Markt gebracht.

Heute ist das ganz anders. Plötzlich müssen Innovationen und Ideen nicht mehr unbedingt von uns entwickelt werden. Wir können von anderen lernen. Das heißt, wir müssen uns ehrlich eingestehen, dass wir nicht die intelligentesten Menschen auf dem Planeten sind und nicht die einzigen, die kreative Innovationen entwickeln können.

CMO.com: Sie sprachen von einer kundenorientierten Herangehensweise. Was sind dabei die besonderen Herausforderungen?

Jensen: Eine der größten Herausforderungen ist die schnelle Markteinführung, weil große Industrieunternehmen zusammenarbeiten müssen. Wir müssen schneller zu Entscheidungen kommen. Wir müssen schneller auf Entwicklungen des Marktes reagieren.

CMO.com: Wie versuchen Sie, diese Veränderungen anzugehen?

Jensen: Diese Frage betrifft das ganze Unternehmen. Ich kann nur meinen Teil dazu beitragen und diejenigen unterstützen, die wirklich wissen, wie der Markt funktioniert und wie die Bedürfnisse der Menschen aussehen. Dazu muss ich mit Market Intelligence und Konsumenten-Insights arbeiten, mich auf unsere Daten über Echtzeit-Kommunikation und Dialogleistung stützen und das passende Angebot den richtigen Leuten zur richtigen Zeit präsentieren.

Einerseits sind die technischen Lösungen und die Reaktionsweise von Menschen auf bestimmte Probleme und unsere Aktivitäten eine enorme Herausforderung. Andererseits ist es eine riesige Chance für uns, so zielgerichtet zu arbeiten wie noch nie.

CMO.com: Wie wird das Konzept der Always-on-Kommunikation bei Volkswagen umgesetzt?

Jensen: Always-on bedeutet, dass wir unserem Gesamtprozess die Struktur geben, über die ich vorhin gesprochen habe. Sie bedeutet auch, dass wir tiefer in den Purchase Funnel hineinschauen müssen.

Der Kauftrichter hat sich zwar stark verändert, aber die Schritte nicht: Markenbekanntheit, Vertrautheit, Kauferwägung und Kauf. Mehr als 40 Prozent derjenigen, die den Kauf eines VW in Erwägung ziehen, kaufen dann auch wirklich einen, wenn wir unsere Kommunikationsaktivitäten und Angebote entsprechend targeten. Mit anderen Worten: Es ist lukrativer, unser Geld in Aktivitäten zu investieren, die an Menschen mit Kauferwägung gerichtet sind, als unser Marketingbudget in die Bekanntheitsphase zu stecken. Das haben wir grundlegend verändert. Fast 40 Prozent unseres Media-Budgets sind der Erwägungsphase zugewiesen. Zukünftig dürfte das sogar noch mehr werden.

Was das prädiktive Marketing angeht, bin ich davon überzeugt, dass es in zwei oder drei Jahren mindestens ein Drittel unseres weltweiten Media-Budgets ausmachen wird. Unsere Marketingabteilung wird dann auf einmal viel datenbezogener und analytischer sein.

CMO.com: Ein anderes Thema, das ich ansprechen wollte, sind die Partnerschaften im Innovationsbereich. Wie sieht Ihr Prozess aus, um außerhalb des Unternehmens neue Ideen zu finden?

Jensen: In diesem Bereich öffnen wir uns gerade, indem wir zu einer Anlaufstelle für Start-ups werden. Wir veranstalten viele Hackathons. Wir arbeiten mit verschiedenen Institutionen zusammen. Und wir haben viele Kooperationen auf die Beine gestellt.

Am wichtigsten ist jedoch, dass wir intern an einem Prozess arbeiten, wie wir Menschen finden können, die Ideen entwickeln, aber keine Möglichkeiten haben, diese auch umzusetzen.

Die Welt ist so transparent, man muss das Rad nicht neu erfinden. Es gibt so viele gute Beispiele überall um uns herum. Man muss jemanden damit beauftragen, sie zu begutachten, und das tun wir. Wir arbeiten mit Menschen zusammen, die uns großartige Ideen liefern. Und selbstverständlich entwickeln wir unsere eigenen Ideen.

Der Knackpunkt ist jedoch auch hier, an der Veränderung im Geiste zu arbeiten, sodass sich die Menschen öffnen und es für sie in Ordnung ist, dass die Erfindung von jemand anderem stammt.

CMO.com: Wie unterstützen Sie diese Veränderung?

Jensen: Einfach dadurch, dass wir es immer wieder tun. Natürlich ist es auch oft sehr frustrierend. Wenn jemand eine Idee hat, die nicht implementiert wurde, bekommt man zu hören: „Ich hatte eine gute Idee, aber sie wurde nicht implementiert. Warum sollte ich überhaupt noch was vorschlagen.“ Wir brauchen eine Trial-and-Error-Kultur, und die kann nur mit Geduld entstehen.

CMO.com: Wie verändert sich gerade Ihre Beziehung zu Ihren Agenturen?

Jensen: Die traditionelle Beziehung zwischen Agenturen und Unternehmen wird es nicht mehr lange geben. Wir müssen vollkommen umstrukturieren. Das betrifft nicht nur Volkswagen. Jeder, der etwas vermarkten möchte, braucht ein vollkommen neues Setup.

Die Grenzen zwischen Media, Media-Einkäufern und Kreativagenturen, Analysefirmen, digital und Social-was-auch-immer verschwimmen heutzutage immer mehr.

Die CEOs der großen Agenturnetzwerke frage ich gerne, weshalb sie nicht anfangen, Gesamtpakete zu entwickeln und mir etwas anzubieten, das die Welt noch nicht kennt. Ich meine damit eine Kombination aus allem und dass sie mir die Möglichkeit geben, alles aus einer Quelle zu beziehen. Mir ist es wirklich egal, wie die Agentur heißt. Und ich weiß sehr wohl, dass sie auch andere Kunden hat. Ich muss mir nur sicher sein können, dass ich das bestmögliche Team habe. Und weil wir unseren Partnern ein riesiges Volumen an Möglichkeiten bieten, bin ich davon überzeugt, dass wir auch die bestmögliche Behandlung erhalten werden.

Die Art und Weise, wie wir mit Agenturen zusammenarbeiten, wird sich innerhalb der nächsten zwölf Monate weiter verändern, in manchen Bereichen grundlegend.

Das Interview erschien im August 2016 auf CMO.com.