KI vs. menschliches Gehirn: Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck im Interview

Künstliche Intelligenz hält derzeit Einzug in unseren Alltag. Im Interview mit CMO.com schwärmt Dr. Henning Beck davon, wie sie die Arbeitswelt und das Marketing verändert. Dennoch ist er überzeugt von der Überlegenheit des menschlichen Gehirns.

KI vs. menschliches Gehirn: Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck im Interview

Dr. Henning Beck ist begeistert vom menschlichen Gehirn. Er hat viele Jahre mit seiner Erforschung verbracht, Bücher über Geistesblitze geschrieben und weiß deshalb: Das menschliche Gehirn ist jeder Technologie noch immer um Lichtjahre voraus. Dennoch kann es die Unterstützung von künstlicher Intelligenz (KI) und lernenden Maschinen gut gebrauchen. Warum wir Menschen lieber Fragen stellen und KI gut im Antworten ist, und welche Chancen die neue Technologie für Marketer bringt, das hat Dr. Beck im Interview mit CMO.com erklärt. Los ging es mit der biologischen Intelligenz und wo ihre Stärken im Vergleich zur KI liegen.

Dr. Beck: Grundsätzlich ist das menschliche Gehirn schlecht im Daten verarbeiten, aber es kann dafür verstehen was es tut und den Dingen einen Sinn geben. Wir ordnen alles in Geschichten zusammen, wir versuchen einen Sinn- und Verständniszusammenhang aufzubauen. An Details, Fakten oder Daten sind wir gar nicht so sehr interessiert, solange das Gesamtbild stimmt. Kurz gesagt, ist das menschliche Gehirn gut bei den großen Zusammenhängen, aber nicht so gut in der Genauigkeit.

CMO.com: Und an welcher Stelle kommt die KI zum Einsatz, wo hat sie ihre Vorteile?

Dr. Beck: Alle künstlichen Informationssysteme versuchen eigentlich das auszugleichen, was Menschen schlecht können: Wenn es etwa darum geht, große Datenmengen abzuspeichern oder zu analysieren, Muster zu erkennen, oder aufgrund der Faktenlage eine Auswahl aus vielen hundert Optionen zu treffen. Darin sind Menschen nicht so gut und darin können die Maschinen sie unterstützen. Der Mensch kann eben andere Sachen besser. Er stellt die richtigen Fragen, die die Maschinen dann beantworten.

Das liegt daran, dass wir der KI kognitiv voraus sind. Wir sind mehr daran interessiert, wie wir die Welt verändern können, was die Probleme sind. Wir stellen lieber Fragen, anstatt Antworten zu geben und wir mögen es, Muster auch zu brechen. Software und Algorithmen dagegen versuchen, Gemeinsamkeiten und Korrelationen zu finden.

Die KI ist besser darin, Muster in großen Datenbergen zu entdecken oder viele Daten besonders schnell und fehlerfrei zu verarbeiten – das können Bilder sein, Töne, Dokumente oder Schrift. Der Mensch macht hier zwangsläufig irgendwann Fehler. Wenn es darum geht Gesichter oder gut definierte Objekte zu erkennen; auch wenn es darum geht, eine Auswahl zu treffen, ist uns die KI voraus. Denn wir haben oft die Qual der Wahl. Genau dann können uns künstliche Systeme unterstützen, indem sie die Auswahl einschränken, uns im Assistentenmodus hinführen, uns an die Hand nehmen und unsere Schwäche dadurch ausgleichen.

Allerdings muss das, was diese Maschinen dann am Ende ausspucken, das Ergebnis, interpretiert werden. Das ist etwas, das wir Menschen machen müssen und auch weiterhin machen werden.

CMO.com: KI übernimmt also die wiederholbaren Tätigkeiten und monotonen Aufgaben. Die Entscheidung, was mit den so gefundenen Mustern und Resultaten gemacht wird, die trifft dann der Mensch?

Dr. Beck: Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Mein Smartphone kann sich viel mehr Telefonnummern merken als ich, ich weiß noch nicht einmal die Nummer meiner Schwester. Aber ich weiß, wann ich sie anrufen muss. Und die Entscheidung zu treffen, auf welche Daten ich zugreife und was in dem Moment wichtig ist, die trifft der Mensch. Die Daten zur Verfügung zu stellen für die konkrete Aufgabe, das übernimmt die Maschine.

Künstliche Intelligenz zeichnet sich gerade dadurch aus, dass ich sie nicht zwangsläufig für eine Aufgabenstellung komplett fertig programmieren muss, sondern dass sie sich anpassungsfähig verhält und sich auch weiterentwickelt in der Art, wie sie Informationen verarbeitet und Probleme löst. Monotone Tätigkeiten werden zwar unterstützt werden, und Menschen werden dabei von Maschinen ersetzt werden. Aber auch bei Tätigkeiten, bei denen es darum geht sich auch auf etwas Neues einzustellen und anpassungsfähig zu sein, auch das kann durchaus von Maschinen übernommen werden.

CMO.com: Gibt es Bereiche, in die KI und lernende Maschinen so schnell nicht vordringen werden?

Dr. Beck: Die Tätigkeiten, die am menschlichsten sind, werden so schnell nicht ersetzt: Das ist der Bereich, in dem Menschen mit Menschen zusammenarbeiten, wo man andere überzeugen und unterstützen muss und es auf den persönlichen Kontakt ankommt. Man darf nicht unterschätzen, wie sehr Menschen so etwas mögen. Niemand möchte sich von einem Roboter überzeugen lassen. Und wir werden die Oberhand behalten, wenn es darum geht, Befehle nicht nur zu befolgen, sondern auch neu aufzustellen und zu brechen. Neue Produkte und Ideen zu entwickeln, Sichtweisen zu verändern, Marktlücken zu finden und den entscheidenden Schritt voraus zu sein – all das erfordert den Mut dorthin zu gehen, wo noch keiner vor mir war. Dort gibt es nämlich kein richtig oder falsch, da kann mir auch keine KI helfen, weil dort erst einmal keine Regeln gelten. Die stelle ich dann selber auf. Knowledge-Work und Kreativwirtschaft werden Domänen der Menschen bleiben. Dabei geht es um mehr als Kreativität, es geht darum, Regeln zu brechen.

Die KI orientiert sich ja am menschlichen Gehirn, man spricht hier von neuronalen Netzen. Auch wir suchen nach Mustern und Gemeinsamkeiten. Aber wir haben es auch gerne, wenn diese Regelmäßigkeiten dann durchbrochen werden. Wenn dieser Bruch aufgelöst wird, finden wir das lustig, so funktioniert jeder Witz. Wenn eine Erwartungshaltung gebrochen aber nicht aufgelöst wird, dann starren wir nur hin, so funktioniert jeder Zaubertrick. In jedem Fall sind sind wir überrascht, neugierig und interessiert, wenn das Erwartbare auf den Kopf gestellt wird. Wir wollen wissen, was da los ist. Es sind diese Brüche, die die Welt vorantreiben. Vielleicht sind 99 Prozent der Dinge vergleichbar und korrelierbar, aber dieses eine Prozent macht den Unterschied und entscheidet über den Erfolg.

CMO.com: Maschinen und KI lernen immer schneller, besonders viel lernen sie vom menschlichen Gehirn. Werden KIs dieses eine Prozent jemals beherrschen und Regelbrüche ausführen zu können?

Dr. Beck: Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Technologie, die wir derzeit haben, dafür nicht so gut geeignet ist, Regelbrüche und -verstöße auszuführen. Die Fähigkeit, Dinge in Frage zu stellen, verlangt im Gehirn andere Vorgänge als das Lernen und mehr als neuronale Netze, die sich immer weiter anpassen und optimieren. Es verlangt eine grundlegend andere Art Informationen zu verarbeiten, die wir technologisch noch nicht abbilden können. Das ist eine Eigenschaft des Gehirns, die heute durch neuronale Netze und maschinelles Lernen noch nicht nachvollzogen werden kann. Es kann sein, dass man solche Technologien entwickelt und sich das vom Gehirn abschaut. Aber jetzige Technologien einfach nur schneller und besser zu machen, das wird nicht reichen, um den nächsten Schritt zu gehen und die Grenze zu überschreiten zwischen ‚einfach nur lernen‘ und ‚kapieren und die Dinge auch in Frage stellen‘.

Aber immer, wenn ich sagen kann, eine Tätigkeit ist langweilig und stumpfsinnig und kann eigentlich noch effizienter gemacht werden, dann bedeutet das, dass diese Tätigkeit ersetzt werden kann und sehr wahrscheinlich bald von Maschinen übernommen wird. Damit sind nicht nur Lastwagenfahrer gemeint, das sind auch Berufe, in denen ich viele Datenberge auswerten muss, viel Text lesen muss und analysieren muss, in der Wirtschafts- und Steuerprüfung etwa.

CMO.com: Ist denn die Führungsebene sicher vor der KI, also die Entscheider und Manager, die Informationen interpretieren und die Richtung vorgeben müssen?

Dr. Beck: Ich kann mir vorstellen, dass sich auch für diese Gruppe einiges verändern wird. Auch solche Berufe, bei denen das Aufgabenfeld größer und komplexer ist, können zumindest unterstützt werden. Es ist nicht so, dass wir in zehn Jahren einen digitalen CEO haben werden. Aber warum sollen nicht viele Tätigkeiten durch KI unterstützt werden, etwa um Marktanalysen zu erstellen, Beschäftigungszahlen und Umsätze zu updaten, das Unternehmen in der Ganzheit zu erfassen – all das kann KI gut unterstützen. Natürlich werden Menschen immer direkten menschlichen Kontakt haben wollen. Das ist nicht ausschließlich der Außenvertriebler, aber wenn ich zum Beispiel ein Team produktiv machen will, eine Unternehmenskultur und -atmosphäre schaffen will. Das gelingt nur, indem ich Menschen auf Menschen einwirken lasse. Und das wird bleiben.

CMO.com: Sie haben eine Zeitlang für Startups in der Bay Area in San Francisco gearbeitet. Gibt es durch die KI auch Änderungen beim Marketing? Hat das Auswirkungen auf die Customer Experience?

Dr. Beck: Zweierlei: Erstens wird es dahin gehen, dass man menschliche Auswahl oder Entscheidungen unterstützt und uns KI sehr viel an verschiedenen Optionen abnimmt. Wenn ich ein Produkt haben will, ein Auto oder Handy, muss ich viel vergleichen. Das kann mir KI abnehmen und den Overchoice-Effekt verhindern, wie man in der Psychologie sagt, die Auswahlüberlastung. Das Anklicken einer Website zum Vergleichen wird dann verschwinden und ich lasse mich eher wie von einem Assistenten durch die Auswahl führen. Bei Vergleichsportalen habe ich immer noch viel Arbeit, muss eintippen, sichten und auswerten. KI macht das kundenfreundlicher.

Und zweitens wird es eine KI geben, die man in dieser Form gar nicht wahrnimmt. Wenn es etwa darum geht, Produkte oder Dienstleistungen an den Konsumenten zu bringen, dann ist es so, dass die Menschen gar nicht so sehr das Produkt kaufen, sondern sie kaufen eigentlich die Geschichte und die Idee, die dahintersteht. Ich kaufe ein Smartphone nicht, weil es so schnell ist, sondern weil es mir Freiheit, Kommunikationsfähigkeit und Information verschafft. Ein Auto kaufe ich nicht unbedingt nur, um von A nach B zu kommen. Ich kaufe es auch, um frei dorthin zu fahren, wohin ich gerade will. KI kann nun dabei helfen, den Konsumenten besser kennenzulernen, nicht mehr nur in den Markt hineinzuproduzieren, sondern Zielgruppen klarer zu definieren. Je genauer ich das weiß, umso besser kann ich auch solche Geschichten und Ideen mit den Produkten verknüpfen und typengerecht anbieten. Ich kann ein Auto ja auf verschiedene Weisen verkaufen. Ich kann es als Freiheit verkaufen, als Mobilitätswerkzeug oder als Konnektivitäts-Tool – das ist drei Mal das selbe Auto, aber die Story, die ich erzähle, ist eine andere. Und da kann natürlich ein System, das die Vorlieben des Kunden besser kennt, bessere Kampagnen produzieren.

Das Interview entstand im Vorfeld des “Adobe Customer Experience Forum Financial Services” in Frankfurt. Hier erfahren Sie mehr dazu und können sich bei Interesse registrieren.