Marken müssen eine neue Balance zwischen Treue und Reichweite finden

Die Loyalität der Kunden ist nach wie vor wichtig für Marken. Nur muss sie heute in eine umfassendere Strategie eingebettet werden, hin zum anspruchsvollen Kundenerlebnis.

Marken müssen eine neue Balance zwischen Treue und Reichweite finden

Dr. Byron Sharp, Direktor am australischen Ehrenberg-Bass-Institute for Marketing Science, sorgte mit seinem Buch „How Brands Grow“ für Kontroversen. Seiner Ansicht nach ist es einer wachstumsorientierten Marke nicht zuträglich, die Kundenbindung – und demzufolge auch Retention und Segmentierung – in den Mittelpunkt zu rücken. Marketer sollten stattdessen lieber marktorientierte Strategien verfolgen. Das bringe eine höhere Rendite und würde mehr Ressourcen für die Kundenakquise und die Reichweite zur Verfügung stellen.

Solche Gedanken rufen bei Marketern starke Emotionen hervor, denn wir leben in einem Zeitalter, in dem das Kundenerlebnis höchste Priorität hat und die Customer Journey äußerst komplex ist. Die Beraterin Jenny Ashmore meint dazu: „Viele Leute sehen Byrons Aussagen entweder in schwarz oder weiß. Ich würde sagen, dass es dazwischen viele Grautöne gibt. Viele seiner Gedanken schneiden Dinge an, die Marketer unter anderer Überschrift bereits machen und nicht unbedingt mit dem Label Markentreue versehen.“

Ob die Marketer nun mit Sharps Ansichten übereinstimmen oder nicht, seine Wachstumsregeln gelten weithin als gute Lektüre. Nicht zuletzt, weil sie hochaktuelle Fragen und Überlegungen rund um Loyalität, Interaktion und Kundenerwartungen behandeln.

Ein Balanceakt

Für die meisten Marken ist die Entscheidung zwischen Massenkommunikation und präzisem Targeting weniger eine Frage des Entweder-oder als eine des richtigen Gleichgewichts – je nach Strategie und den Bedürfnissen der Zielgruppe. Das gelte insbesondere für die sogenannten Badge Brands (also Marken, mit denen sich die Menschen identifizieren), egal ob Bier oder Handy, betont Richard Dunn, leitender Stratege für die Region EMEA bei der Digitalagentur Wunderman. „Ein CMO muss so viele Menschen wie möglich für die Marke begeistern können und gleichzeitig den treuesten Kunden das Gefühl geben, dass sie dem Unternehmen etwas bedeuten.“

„Marken sind Teil der Persönlichkeit eines Menschen. Wenn Sie nur mit den Leuten kommunizieren, die Ihre Produkte kaufen, haben Sie nicht verstanden, worum es bei Marken geht und wie wichtig das soziale Umfeld für unsere Entscheidungsfindung ist. Ihr Produkt muss für den Großteil der Konsumenten eine soziale Komponente besitzen.“

Konsumenten reicht es heutzutage nicht mehr, einfach nur das beste Produkt gefunden zu haben, sie wollen es auch ihren Freunden mitteilen. Eine große Reichweite wiederum kann dabei helfen, das soziale Prestige zu erzeugen, das auf die Kaufentscheidungen der Konsumenten zurückwirkt.

Die Bedürfnisse der Kunden

Der eigennützig denkende Kunde von heute möchte allerdings auch, dass sich die Marke seinen Bedürfnissen anpasst. Die Ergebnisse der kürzlich durchgeführten Wunderman Wantedness-Studie zeigen, dass sich 72 Prozent der Kunden etwa in Großbritannien nur den Marken zuwenden, von denen sie sich offensichtlich verstanden und geschätzt fühlen. Mehr als die Hälfte der Befragten (54 Prozent) empfand mehr Loyalität für Marken, die ihre Prioritäten und Vorlieben verstanden haben.

Die Fluggesellschaft Scandinavian Airlines (SAS) beispielsweise hat eine Möglichkeit gefunden, ihr Marken- und Produktangebot an den Vorstellungen ihrer High-End-Kunden auszurichten: Kunden, die häufig reisen, werden als „Five-plus“-Publikum kategorisiert. Ihren typischen Merkmalen nach ist diese Gruppe „sehr unabhängig und sehr neugierig. Für sie ist Fliegen und Reisen eine Art der Selbstverwirklichung“, erklärt Didrik Fjelstad, Vicepresident of Brand and Marketing.

„Diese Kunden sind äußerst anspruchsvoll. Sie haben nicht nur einen Anspruch an uns als Fluggesellschaft, sondern auch als Marke und als das Lifestyle-Unternehmen, mit dem sie sich täglich assoziieren.“

Zweigleisig fahren

Beispiel Fast Moving Consumer Goods (FMCG): Marken fahren hier oft zweigleisig in Bezug auf die Kundentreue. Denn Distribution, Bekanntheit und wiederkehrende Produkte und Inhalte sind hier wesentlich für die Jahresbilanz – mancher Branchenkenner spricht auch vom “Back To The Basics”-Ansatz.

„Wenn Sie Ihre Marke als bloßen Konsumgut-Hersteller betrachten, ist Marktpenetration mit Sicherheit wichtiger als die Treue der Kunden“, so Alex Smith, Gründer der Unternehmensberatung Basic Arts. Doch das geht am allgemeinen Trend hin zu zweckmäßigen und spezialisierten Marken vorbei. Für deren Produkte, etwa für umweltfreundliche Reinigungsmittel, würden Kunden selbst längere Umwege in Kauf nehmen.

„Im Endeffekt kann dieser neue Typus von Marken mit viel weniger Werbeetat erfolgreich sein, indem er einfach die Loyalität eines anspruchsvolleren Kundensegments pflegt“, schlussfolgert Smith.

Der Trend hin zur Markentreue und zu Nischenprodukten nimmt Fahrt auf. Smith unterstreicht: „90 Prozent der 100 größten US-Werbetreibenden im FMCG-Bereich haben im Jahr 2015 Marktanteile verloren. Der Schwerpunkt verlagert sich eben von Konsumgut-Herstellern, für die Marktpenetration und ein Kundenbewusstsein auf Zombieniveau ganz normal sind, zu Marken mit gut durchdachten Produkt- und Servicekonzepten. Allerdings hält große Marken nichts davon ab, auf beiden Hochzeiten zu tanzen.“

So erzeugen Sie Markentreue

Für Marken außerhalb des FMCG-Sektors kann es viel schwieriger sein, Konsumenten zu loyalen Kunden zu machen. Die Marketingagentur LIDA kooperiert mit Dienstleistungsmarken, darunter O2 und die britische Post, Royal Mail, aber auch mit Handelsfirmen wie Boots, New Look und Ikea. „Diese Unternehmen haben die schwierige Aufgabe, ihre Kosten für die Akquise von Neukunden auf einem akzeptablen Niveau zu halten. Gleichzeitig ist es extrem verlockend, sich auf die bestehenden Kundenbeziehungen zu konzentrieren, um eine wirkliche Bindung aufzubauen, die praktisch lebenslang einen hohen Wert behält“, berichtet LIDA-Vorstand Matthew Heath.

Heath zufolge wird das auf Treue ausgerichtete Marketing immer wichtiger, um eine Marke gut zu positionieren. Die Ursache liegt seines Erachtens nach in der wachsenden Fähigkeit der Marketer, „mithilfe zunehmend aussagekräftiger Daten relevantere Interaktionen mit den Kunden zu ermöglichen, die über alle Touchpoints hinweg vernetzt sind.“

Wenn Marketer also ihr Ziel erreichen und den Kunden in den Mittelpunkt rücken wollen, wird dessen Loyalität in Zukunft davon abhängen, wie ansprechend die Kundentreue in das Markenerlebnis als Gesamtpaket eingebunden wird. Dafür werden noch mehr Segmentierung und Flexibilität erforderlich sein.

„Viele Marken überlegen immer noch, was sie eigentlich kommunizieren wollen, anstatt sich auf den Kunden selbst und darauf zu konzentrieren, was ihn dazu bewegen könnte, öfter bei der Marke zu kaufen und mehr auszugeben“, resümiert Emily Buckman, Global Strategic Consultant bei der Engagement-Plattform Urban Airship.

Damit die Quartalszahlen stimmen, entscheiden sich viele Unternehmen für die einfachste Zielgruppe, insbesondere angesichts der unzähligen User Journeys und Kundenerlebnisse, die heute entworfen werden müssten. Buckman weiter: „All unsere Kunden sind wichtig und wir müssen so viele Konsumenten wie möglich erreichen. Um diese beiden Beziehungen optimal zu gestalten, müssen wir sie nur auf leicht unterschiedliche Weise behandeln.“

Bessere Treueprogramme

In einer neuen Welt der Markentreue, die auf Markenerlebnissen aufbaut und nicht auf Transaktionen, spielen Benutzerfreundlichkeit (siehe Lieferung am nächsten Tag) und Kundenprämien eine wichtige Rolle.

Die Pioniere des Einzelhandels, die Treueprogramme entwickelt haben, müssen umdenken. Treuepunkte und -geschenke haben ihren Wert verloren. Sie sind für die Kunden nicht mehr interessant.

Matt Lee von der Marketingagentur Capture, ist der Meinung, Händler und Marken seien zu besessen von „vorher teuer/jetzt billig-Angeboten“. Dabei wenden sie einen ähnlich hohen Nachlass nacheinander auf all ihre Produkte an. Das macht es für die Händler nicht einfach, zum Kunden durchzudringen: Treueprogramme sind längst keine Seltenheit mehr und alle kämpfen um eine relativ kleine Gruppe von Kunden, die sich nicht auf eine Marke festgelegt haben.

„Händler, die es mit der Markentreue wirklich ernst meinen, müssen ihre derzeitige Denkweise über Bord werfen und Technologien einsetzen, um Angebote zu personalisieren und zu skalieren – sie wissen immerhin, welche Angebote die Kunden bereits gekauft haben. Auch ansprechende Zusatzfunktionen wären sinnvoll, wie die Möglichkeit zum Vormerken eines Angebots. So brauchen sie weniger Nachlässe zu gewähren und die Kunden bekommen das, was sie wirklich wollen“, sagt Matt Lee.

In Branchen mit größerer emotionaler Involviertheit der Kunden haben die alten Treueprogramme allerdings noch nicht ganz ausgedient. Prämien in der Reisebranche sowie im Hotel- oder Gastgewerbe stehen hoch im Kurs. Die dort von den Akteuren angebotenen Programme besitzen trotz ihres angestaubten Images auch weiterhin eine große Durchschlagskraft.

Ian Chambers, Finanzchef bei Monarch Airlines, erklärt: „Unser Treueprogramm ist zwar nicht branchenführend, doch selbst in seinem jetzigen Format hat es für unser Geschäft einen immensen Stellenwert.“ Bei Monarch plant man gerade, das Programm umzustrukturieren und auf einer neuen Plattform laufen zu lassen. Damit stützt das Unternehmen seine Investitionen in die Kundenbindung und gleichzeitig seinen Plan für die Kundenakquise. Weil Monarch auf Wachstum ausgerichtet ist, steht zudem auch eine Kampagne zur Stärkung der Markenbekanntheit an. „Man kann sich nicht nur auf eine Sache konzentrieren und alles andere stehen und liegen lassen“, bekräftigt Chambers.

Markentreue ist also weit davon entfernt, unwichtig zu sein. Für die Marketer von heute ist sie so relevant wie eh und je – aber kein separates Aufgabenfeld mehr. Immer häufiger wird sie in die umfassende Geschäftsstrategie eingeflochten. Wachstumsorientierte Marketer müssen dabei extrem präzise vorgehen, um die Bedürfnisse ihres vielschichtigen Publikums abzudecken, anstatt nur auf kürzestem Weg schnelle Erfolge zu erzielen.