Automatisierung ist keine Gefahr, sondern eine Chance

Im Zeitalter des Datenmarketings kann die Automatisierung wie ein Triumph der künstlichen Intelligenz über den menschlichen Verstand wirken. Tatsächlich schafft sie jedoch Freiräume für Kreativität und Vorstellungskraft.

Automatisierung ist keine Gefahr, sondern eine Chance

Marketer sollten die ‚brutale‘ Einfachheit der Automatisierung akzeptieren, um aus der neuen Ära des intelligenten und datenbasierten Marketings Kapital zu schlagen. Denn die Automatisierung überholt nicht einfach den menschlichen Verstand, sie erweitert ihn.

Dem Sieg der künstlichen Intelligenz (KI) über menschliche Akteure gilt heutzutage das größte Augenmerk, wenn es um technologische Fortschritte geht. Viele Marketer verstehen Phrasen wie „Mensch gegen Maschine“ oder Big Data als eine Art kreatives Schachmatt. Im Umgang mit künstlicher Intelligenz gehen sie instinktiv in die Verteidigung. Dies birgt die Gefahr, dass die neuen Möglichkeiten der Automatisierung und KI von der Annahme getrübt werden, Marketer würden schlichtweg überflüssig.

Tom Goodwin, Executive Vice President und Innovationschef bei Zenith USA, erklärt: „Die Automatisierung ermöglicht es uns, grundlegend über neue Arten der Werbung nachzudenken, die personalisierter, kontextspezifischer, zeitnaher und somit relevanter und hilfreicher sind. Wir neigen dazu, einer neuen Technologie immer das Schlimmste zu unterstellen – dass sie Leute arbeitslos macht oder die Kreativität ausmerzt. Und das kann sie auch. Doch wenn wir alle darin ein nützliches und anspruchsvolles Arbeitshilfsmittel sehen, wird das Entwickeln von neuen Werbearten sogar richtig spannend werden.“

Die Big Data-Lücke

Für Marketer bringt die Automatisierung von zeitraubenden Tätigkeiten viele Vorteile mit sich. Sie haben dann nicht nur mehr Zeit für strategische Entscheidungen, sondern auch für die Vereinfachung von Marketingprozessen. Das Management vielfältiger Customer Journeys oder die Anwendung automatisierter Algorithmen sind nur zwei Beispiele von vielen. Damit können sie dann simple Verhaltensweisen von Konsumenten besser prognostizieren und zum richtigen Zeitpunkt personalisierte Botschaften anbieten, etwa den Wetterbericht. Laut Jean-Paul Edwards, Strategy and Product Development Director bei OMD, ermöglicht die Technologie neben der Verarbeitung einer größeren Menge von Daten auch die Senkung der Kosten für solche Prognosen.

Trotz der Big Data-Phrasen glauben einige Branchenkenner, dass viele Marken stur an manuellen Prozessen festhalten und dementsprechend auch am Risiko des menschlichen Versagens. Ginge es nach Aurelia Noel, Global Digital Partner bei der Media-Agentur Carat, sollten sich alle Marketingbereiche an die 80/20-Regel halten, das heißt die Arbeit zu 80 Prozent automatisieren und zu 20 Prozent manuell ausführen. Schwergewichte wie Planung, Einkauf, Berichterstattung, Optimierung der Conversion, Kontaktgenerierung, Tests, Inhaltserstellung und Auswertung von Resultaten sind dabei automatisiert. Zu den übrigen 20 Prozent gehören Strategie, Interpretation, Umsetzung und Angebotserstellung. Noels Meinung nach können Marken auf diese Weise „ihre Digitalisierung besser steuern und entscheiden, wie sie agieren und wie sie ihr Geschäft zukunftssicher gestalten wollen.“

Die zögerliche Akzeptanz des 80/20-Modells unter den Unternehmen steht wohl im Zusammenhang mit den Mankos des programmatischen Medienkaufs, das große Beachtung gefunden hat. Wenig zuträglich waren auch die diesjährigen Schlagzeilen im britischen Magazin The Times über Marken, die den Terrorismus finanzieren. Nach Ansicht von Nick Gill, Mitbegründer und strategischer Partner bei Team Eleven, ist das Programmatic Advertising lädiert, weil es Erinnerungen an das Spamming mit Direktwerbung weckt. Dieses Schicksal winkt übrigens momentan auch dem Retargeting. Retargeting ist „theoretisch eine großartige Idee“, betont er, „doch wer gerade ein Produkt online gesucht und gekauft hat und dann Retargeting-Werbung erhält, wird sofort seinen Ad-Blocker aktivieren, um dem Stalker zu entkommen.“ Gill verbindet dies direkt mit der Tatsache, dass fast die Hälfte aller Millennials heutzutage Ad-Blocking-Software nutzt und 80 Prozent von ihnen Online-Werbung überspringen, weil sie sie als nervend und störend empfinden.

Das Empathiedefizit

Tatsächlich machen sich sowohl Marketer als auch Konsumenten Gedanken über die Folgen der Automatisierung. Rik Moore, Head of Strategy bei Havas Media, hat beobachtet, dass es eine Menge verschiedener Fantasien und Prognosen über die Zukunft der künstlichen Intelligenz gibt, die aber auch Bedenken und Ungewissheit mit sich bringen. Als Beispiel führt er Microsoft an. Die KI-Forscher des Unternehmens hatten für den Rugby World Cup 2015 jedes Spielergebnis richtig vorhergesagt – mit Ausnahme des japanischen Überraschungssieges in der Partie gegen Südafrika. Moore meint dazu: „Ich glaube, das ist ein wunderbares Gleichnis für die Beziehung zwischen Algorithmen und der menschlichen Kreativität. Algorithmen können uns schneller und effizienter machen. Aber was uns Menschen wirklich ausmacht, ist unsere Kreativität. Wir sollten beides in vollen Zügen auskosten und miteinander kombinieren, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen.“

Einige Experten glauben noch heute, dass genau diese menschliche Komponente fehlt, damit automatisierte Marketingbotschaften funktionieren können. Sven Hughes, CEO bei Verbalisation, ist der Meinung, dass das Thema Empathie mit Bezug auf die künstliche Intelligenz noch unausgesprochen im Raum steht. „Alle konzentrieren sich auf die Resultate der Technologie. Wie sie funktioniert, bleibt unbeachtet. Der nächste große Durchbruch im Bereich künstliche Intelligenz hat wahrscheinlich genauso viel mit der Funktionsweise der Technologie zu tun wie mit ihrem Inhalt. Nehmen wir doch nur mal die Fähigkeit der künstlichen Intelligenz, anhand von Mustern nicht nur die Gemütslage von Konsumenten, sondern auch ihre nicht erfüllten Bedürfnisse nachzuempfinden.

Automatisierte Kunstfertigkeit

Jenseits von Einfachheit und Zeitersparnis schenkt KI den Marken mehr innovative und kreative Möglichkeiten. Experten glauben jedoch, dass Marketer Gefahr laufen, die Grenzen zwischen den Aufgabenbereichen zu verwischen und von einem genialen neuen Konzept zum nächsten zu springen, ohne die Grundzüge der einfachen Automatisierung jemals richtig zu beherrschen. Denn wie sinnvoll ist wohl Big Data für Marken, wenn diese weder über die Ressourcen noch die Tools verfügen, um Daten zu filtern und die stetig wachsende Menge an Touchpoints mit dem Konsumenten zu verstehen?

„Wir müssen vorsichtig sein und zwischen echter künstlicher Intelligenz – die es kaum gibt – und lediglich hochentwickelten Algorithmen und guten Daten unterscheiden“, betont Tom Goodwin von Zenith. „Echte KI ermöglicht die Verbesserung von Bildern, Erfassung und intelligentem Kontext-Placement sowie die Automatisierung von präziserer Optimierung. Sie wird dafür sorgen, dass sich Werbung relevanter anfühlt, nützlicher ist, besser funktioniert und das Kundenerlebnis bereichert. Wetterbasiertes Targeting und automatische Werbung werden ein Teil davon sein, doch die eigentlichen Möglichkeiten gehen weit darüber hinaus.“

Jenseits von „Mensch gegen Maschine“

Um das volle Potenzial der Automatisierung besser ausschöpfen zu können, müssen Marketer auch das unnötig feindselige Denkmuster „Mensch gegen Maschine“ ad acta legen. Jean-Paul Edwards von OMD ist der Meinung, dass die Branche reif ist für den nächsten großen intellektuellen Sprung. Er weist darauf hin, dass auch ein guter Schachspieler einen viel besseren Schachspieler schlagen kann, wenn er von KI unterstützt wird. „Vor zwanzig Jahren verwendeten wir Bücher für die Zielgruppenindex-Analyse. Heute nutzen wir Technologien zur Optimierung feinster Details. Aber um große Sprünge zu machen, brauchen wir immer noch den Menschen.“

Laut der Prognose von Trevor Hardy, Geschäftsführer von The Future Laboratory, werden aus der Asche der Marketingjobs, die der Automatisierung zum Opfer fallen, neue Aufgaben erwachsen. „Die Automatisierung schenkt uns mehr Zeit, um unsere Vorstellungskraft zu nutzen, um neue profitable Wege für das Unternehmen zu finden und um es Marken zu ermöglichen, besser auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen und Teil des kulturellen Dialogs zu werden.“ Die Beweislast liegt beim intelligenten Marketer. Er muss seine Bedenken ausräumen und dieses Geschenk endlich annehmen.