Alles-auf-einmal ist manchmal besser als Schritt-für-Schritt

Wer auf schrittweises Wachstum setzt, wird früher oder später von der Konkurrenz überholt. Warum der Einzelhandel lieber klotzen sollte, als zu kleckern.

Alles-auf-einmal ist manchmal besser als Schritt-für-Schritt

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte?

Die Antwort mag Ansichtssache sein, aber die meisten können sich wahrscheinlich auf die Pyramiden in Ägypten, die Polio-Impfung und die Mondlandung einigen.

Stellen Sie sich vor, die Verantwortlichen für diese großartigen Erfolge hätten kurz zuvor gesagt: „Das können wir zwar schaffen, aber dann müssen wir ja nächstes Jahr noch einen draufsetzen … also ich weiß nicht.“

Man kennt das. Jeder Einzelhändler, der den Umsatz in einem Geschäft schon einmal um fünf Prozent steigern sollte, weiß, dass zehn Prozent Wachstum fast genauso zu fürchten sind wie überhaupt keines. Bei börsennotierten Firmen ist die „Wachstums-Obsession“ sogar noch stärker ausgeprägt.

Mit Wachstums-Obsession meine ich die tägliche und übertrieben rigorose Fixierung auf den Jahresvergleich. Die Orientierung an Messwerten ist natürlich wichtig. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die Zahlen die Überhand gewinnen und Innovationen auf der Strecke bleiben.

Diese kurzsichtige Herangehensweise ist im Einzelhandel weit verbreitet – ein Unternehmen hat daraus ganz besonders Kapital geschlagen und im Alleingang Einzelhändler rund um den Globus in die Knie gezwungen: Amazon. Dabei soll dies keine Lobeshymne auf Amazon als der Einzelhandels-Weisheit letzter Schluss sein. Im besten Fall kann dieser Beitrag aufzeigen, was man bei Amazon schon vor langer Zeit verstanden hat: Wenn Sie statt auf schrittweises Wachstum nicht auf den großen Durchbruch hinarbeiten, wird Ihr Unternehmen auf lange Sicht keinen Erfolg haben.

Für mindestens zehn Jahre firmierte Amazon in so mancher Chefetage des Einzelhandels als eine Art Witzfigur. In seinen ersten fünf Jahren als börsennotiertes Unternehmen hatte es ja noch nicht mal einen ordentlichen Cashflow vorzuweisen. Heute herrscht Amazon über 33 Prozent des größten E-Commerce-Marktes der Welt in den USA. In anderen Ländern und in Deutschland ist ein ähnlicher Trend zu verzeichnen. Das zeigt: Wenn Denkweise und Aspiration nur mutig genug sind, kann das Ergebnis bahnbrechend sein.

Beispiel Versand

Die Problemstellung: Um im E-Commerce Fuß zu fassen, müssen wir Pakete an unsere Kunden liefern.

• Einzelhändler, 2007: Das klingt kompliziert, lasst es uns outsourcen. Welcher Ort liegt ungefähr in der Landesmitte? Baut das Lager am besten dorthin.

• Einzelhändler, 2017: Wartet mal, wir haben doch so viele Filialen. Wie wäre es, wenn wir von dort aus versenden?

• Amazon, 2007: Wir bauen einfach so viele Warenlager wie möglich. Dann können wir im Laufe der nächsten zehn Jahre das Bestandsmanagement optimieren, die Lieferzeiten und -kosten minimieren und am Ende die Kundenerwartungen noch übertreffen, weil wir innerhalb von zwei Tagen liefern.

• Amazon, 2017: Unsere Logistik ist zwar perfekt auf den Paketversand abgestimmt, aber wir müssen die Kundenerwartung jetzt übertreffen und von zwei Tagen auf zwei Stunden Lieferzeit kommen, um weiter Druck auf den Markt auszuüben. Außerdem müssen wir all die Partnerschaften, die wir aufgebaut haben, nutzen, um unsere profitabelsten Produkte an den Mann zu bringen: die Technikartikel.

Ganz schön dreist, oder? Stellen Sie sich vor, Sie spalten Ihr Unternehmen in zwei Teile auf: Der eine Teil macht beim üblichen Börsenspiel mit und konzentriert sich auf das zukzessive Wachstum. Der andere Teil ist ausschließlich mit dem großen Durchbruch beschäftigt, damit, den großen Wurf zu landen. Genau das hat Google, genauer gesagt Alphabet, im August 2015 getan. Die „Moonshot“-Sparte des Konzerns spielt nach ihren eigenen Regeln. Ihr einziger Zweck ist es, das „Schrittweise“ hinter sich zu lassen.

Der große Wurf beruht dabei auf etwas ganz Intuitivem: auf der Kundenerwartung. Amazon hat sich schlicht auf das konzentriert, was am meisten zählt, und zwar den Kunden glücklich zu machen. Indem sich das Unternehmen zehn Jahre lang der Wall-Street-Denkweise widersetzte, hat es den Zwang des sukzessiven Wachstums abgeschüttelt, dem sich der Einzelhandel seit den Zeiten von Woolworths verpflichtet fühlt.

Wie können Sie all das nun auf Ihr Unternehmen anwenden? Im Oktober stecken viele von uns in der Budgetplanung. Arbeiten Sie erst einmal all jene ab, die mit Wachstumszahlen, Margen und Co. glücklich sind – und machen Sie dann mal etwas ganz Neues. Fragen Sie sich: Welche zehn Dinge, die wir vorher noch nie auf der Agenda hatten, wollen wir in der ersten Jahreshälfte ausprobieren und finanzieren?

„Nie“ ist absichtlich kursiv gedruckt. Hier geht es nicht um vorsichtig-sukzessive Veränderungen, sondern um eine lohnenswerte und vollkommen neue Idee, wie zum Beispiel:

Die Aufgabe macht Ihnen vielleicht Angst, aber Ihr Unternehmen könnte davon enorm profitieren. Ihre normale Denkweise brauchen Sie dafür nicht mal abzulegen. Sie müssen nur bereit sein, sich eine zusätzliche Denkweise anzueignen. Eines steht fest: Budgets müssen aufgestellt werden und sich am Wachstum orientieren. Ich will hier keinesfalls andeuten, dass Sie auf die Rentabilität pfeifen sollen. Aber wenn Sie als Einzelhändler ein Budget zum Lernen und Experimentieren zurücklegen, können Sie genauso durchschlagen wie die Unternehmen, die Ihnen in den vergangenen zehn Jahren schlaflose Nächte bereitet haben.