Der Aufstieg der kreativen Kollektive

Dank technologischer Neuerungen, wirtschaftlicher und demografischer Veränderungen schließen sich Freiberufler immer öfter zu kreativen Kollektiven zusammen. Was bedeutet das für Unternehmen und Marketingentscheider?

Der Aufstieg der kreativen Kollektive

Vom semiprofessionellen Nebenjob bis zum Trend zur hauseigenen Agentur – in der Kreativ- und Werbebranche waren die Arbeitsstrukturen schon immer einem steten Wandel ausgesetzt. Nun mischt die neue Spezies der kreativen Kollektive die Marketingbranche besonders im angelsächsischen Raum auf.

In der Kreativbranche bahnt sich also eine kleine Revolution an. Durch wirtschaftliche, demografische und technologische Veränderungen finden Freiberufler immer häufiger in Kreativkollektiven zusammen. Der neue freiberufliche Unternehmergeist hat für Marketer und Kreative erhebliche Auswirkungen.

Airbnb steht an der Spitze dieser neuen Herangehensweise an die kreative Arbeit. „Wir betrachten alles aus einer gemeinschaftlichen Perspektive. Die Airbnb-Community ist ihrem Wesen nach ein Kollektiv“, erklärt James Goode, Managing Director des firmeninternen Kreativteams. „Unsere Community hatte für uns schon immer größte Priorität und wir versuchen, ihre kollektive Kreativität zu nutzen, um uns zum ersten globalen Unternehmen der Welt zu entwickeln, das von seiner Community gesteuert wird“, so Goode weiter.

Airbnb findet dabei immer wieder Wege, diesen Ansatz in sein Marketing zu integrieren, wie die aktuelle Content-Reihe „Based On A True Review“ zeigt. Dafür erwecken Illustratoren aus der Airbnb-Community echte User-Erlebnisse mit authentischem Videocontent zum Leben.

Die Demokratisierung der Kreativität

Die zunehmende Beliebtheit der Kollektive läutet eine neue Ära der leicht zugänglichen Kreativität ein. Davon ist Rania Robinson, Managing Director bei Quiet Storm, überzeugt: „Die Kreativität wird durch neue, billigere und zugänglichere Technologien demokratisiert. Das und die wachsende Zahl an Freiberuflern machen es für Unternehmen einfach Alternativen zu den klassischen Agenturen zu finden, die bei ähnlichem Service wesentlich günstiger sind.“

Diese Entwicklung hat auch eine ganze Reihe neuer und kollektiver Agenturmodelle hervorgebracht, beispielsweise Brown&Co, eine „virtuelle, omni-channel“ Branding-Agentur. Troy Wade, Mitbegründer der Agentur, ist der Ansicht, dass Kreativkollektive in den meisten kreativen Disziplinen im kommerziellen Bereich – Werbung, Design, Branding und Digital – stark im Kommen sind. Wirtschaftliche Faktoren für diesen Wandel, etwa niedrigere Betriebskosten und der Preisdruck bei der Beschaffung, seien zwar nicht von der Hand zu weisen. Laut Wade spiele aber auch ein viel menschlicherer Grund eine Rolle: „Generell glauben wir, dass Menschen produktiver und kreativer sind, wenn sie arbeiten können, wo, wann und wie sie wollen, und wenn sie eine gute Work-Life-Balance haben“.

Die Bürokratie hinter sich lassen

Freiberuflerkollektive sind auch deswegen beliebt, weil die Struktur von Unternehmen einer wirklich kreativen Arbeitsweise meist nicht zuträglich ist. Rania Robinson von Quiet Storm zufolge gebe es insbesondere in großen Unternehmen zu viel Hierarchie und Bürokratie. Beides behindere den kreativen Prozess.

Einige Unternehmen wiegen sich bei großen und vernetzten Agenturpartnern in trügerischer Sicherheit. Diese Partner scheinen über die Ressourcen und die nötige Erfahrung zu verfügen. Was Größe, Bürokratie und Hierarchie angeht, müssen Agenturnetzwerke allerdings häufig die gleichen Hürden überwinden wie ihre Auftraggeber. Weil sie sich an deren Geschäft anpassen, stolpern Agenturen oft über die gleichen Fallstricke wie ihre Kunden. So werden sie zwar effizienter, aber nicht kreativer.

Zugleich sollten Unternehmen nicht dem Irrglauben verfallen, dass die Kooperation mit einem Freiberuflerkollektiv die Ketten der Hierarchie und Bürokratie sprengt. Emma de la Fosse, Chief Creative Officer bei Ogilvy & Mather in Großbritannien, mahnt, dass eine Marke zwar sehr lange brauche, um sich zu etablieren, ihr Ruf aber innerhalb kürzester Zeit geschädigt werden könne. „Früher blieben Marketingchefs jahrelang auf ihrem Posten, das ist heute nicht mehr der Fall. Dienstältester Hüter der Marke ist heute oft nicht mehr ein Mitarbeiter, sondern die Agentur“, sagt de la Fosse. „Wenn das Unternehmen sich mit Kreativen oder anderen externen Partnern zusammensetzt, welche Seite hat dann die nötigen Kenntnisse, wie sich die Marke verhalten und präsentieren soll?“

Mancher ist der Ansicht, dass Kreativkollektive die internationalen Netzwerke einer globalen Marke nicht ersetzen können, weil Kreativprozesse und Management zu komplex sind. Christian Purser, CEO bei Interbrand London, meint, dass Kollektive trotz dieser Herausforderung mitreden könnten, und zwar insbesondere bei kreativen „Standardaufträgen“. __Die __Einführung neuer Produkte wäre dafür ein Beispiel. Unternehmen müssen in kreatives Talent investieren, weil die firmeneigenen Agenturen sich ebenfalls großer Beliebtheit erfreuen. Zudem arbeiten die besten kreativen Köpfe oftmals nicht gerne Vollzeit und am Standort eines einzigen Kunden. Sie lieben die Abwechslung und sind nach ihrer eigenen Agenda in verschiedenen Sektoren und bei unterschiedlichen Marken tätig.

Die Zukunft der kreativen Arbeit

Der Hype um die neuen Kreativkollektive wird die Agenturen zweifellos unter Druck setzen. Sie werden ihre Arbeitsweise ändern müssen, um ihren Talent-Pool zu halten und neue Kreative anzulocken. Uri Baruchin, Head of Strategy bei der Agentur The Partners, meint dazu: „Das gesamte Ökosystem befindet sich in einer Phase des Umbruchs. Meiner Meinung nach werden Kollektive und Freiberufler in Zukunft stärker in das schon bestehende Ökosystem eingegliedert.“

Es darf keine Entweder-Oder-Entscheidung des Marketings sein, ob man die Dienste eines Kreativkollektivs in Anspruch nimmt. „Große Marken sollten sich auf Kreativkollektive einlassen und sie in ihr Partnernetzwerk integrieren“, sagt Sergio Lopez, Head of Integrated Production bei McCann EMEA. „Denn wenn sie Agenturen durch Kreativkollektive ersetzen, werden sie etwa für den Schutz der Marke, die Talentakquise und das Management Verantwortung übernehmen müssen. Das führt aber zu mehr Komplexität und lenkt von den eigentlichen Aufgaben ab“, so Lopez. Er ist der Ansicht, dass Unternehmen gemeinsam mit Agenturen für stabile und zugleich flexible Rahmenbedingungen sorgen müssten. In diese sollten Freiberufler jederzeit integriert werden können, ohne gleich die Unternehmenskultur zu verwässern.

Diversität fördert die Kreativität

Man könnte das Aufkommen der Kreativkollektive ganz einfach als ein neues utopisches Zeitalter der Kreativität im Marketing betrachten. Die Wirklichkeit ist allerdings etwas komplizierter. Mark Eckhardt ist CEO bei Common, einer Firma, die kreative Kollektive unterstützt und fördert. Ihm zufolge habe die Branche das Freiberuflerdasein romantisiert. Dabei seien die meisten Menschen, insbesondere junge Talente, gar nicht dafür geeignet. Trotzdem sei es gut möglich, dass Marken für Spitzentalente bald viel Geld hinlegen müssen, denn einige der besten Kreativen haben sich selbstständig gemacht und können die Preise für ihre Arbeit diktieren. Eckhardt glaubt jedoch, dass Marken mit Expansionsplänen letzten Endes eher eine Agentur engagieren.

Dennoch sollte die Marketingbranche keinesfalls selbstgefällig sein und die kreative Schlagkraft der Kollektive ignorieren. Der Beliebtheit dieser neuen Spezies von Kreativen liegt eine einfache Wahrheit zugrunde: Um die Kreativität zu fördern, braucht es neue und unverbrauchte Stimmen. Genau aus diesem Grund war Airbnb in diesem Jahr auch in Cannes anzutreffen – nämlich um mehr weibliche und multikulturellere kreative Köpfe anzuheuern. James Goode kommentiert diesen Schachzug so: „Wir glauben fest daran, dass die größtmögliche Vielfalt an kreativen Blickwinkeln, Fähigkeiten und Erfahrungen zu den authentischsten Ergebnissen führt.“ Um beim kreativen Wettrüsten in der Marketingbranche erfolgreich zu sein, wird es für Marken immer wichtiger werden, sich an der Denkweise und dem Modell der Kollektive zu orientieren und die Talente so arbeiten zu lassen, wie diese es möchten.